Sind digitale Prozesse gleich bessere Prozesse? Wie Digitalisierung Prozesse so unterstützt, dass am Ende eine spürbare Qualitätsverbesserung für Patienten und Angehörige entsteht (Teil 2/3)

Im ersten Teil dieser Blogreihe habe ich Ihnen bereits beschrieben, dass für die Digitalisierung eines Prozesses eine konsequente (Neu-)Ausrichtung auf die Bedürfnisse der relevanten Anspruchsteller entscheidend ist.

 

Dies  möchte ich am Beispiel des typischen Prozesses der „Arztbriefschreibung“ verdeutlichen: Der Stationsarzt erstellt den Brief – oft schon ab Aufnahme – sukzessive über den Aufenthalt des Patienten hinweg und versucht dann, den Brief (am Tag) vor der Entlassung des Patienten rechtzeitig zu finalisieren, damit er noch durch Ober- und/oder Chefarzt vidiert werden kann, bevor die Stationssekretärin den Brief ausdruckt und dem Patienten bei Verlassen der Station mitgeben kann – natürlich ist das in der Regel ein „vorläufiger Brief“.

Dieser Prozess ist im Laufe der Zeit schon „digitaler“ geworden: dem persönlichen Diktat der Sekretärin mittels Stenographie folgte die Erstellung mit mechanischen Schreibmaschinen im Schreibbüro, die später elektrisch wurden und dann durch digitale Schreibmaschinen (Computer) ersetzt wurden. Das Band-Diktat des Arztes wurde durch das Digitale Diktieren und möglicherweise durch die direkte Spracheingabe abgelöst. Wir befinden uns heute im Krankenhaus bereits vielfach im Zeitalter des „Applying Digital“ – die Digitalisierung erleichtert uns also die Arbeit – vorausgesetzt, wir sind dazu ausreichend befähigt. Allerdings in einem weiterhin grundsätzlich unverändert bestehenden Prozessdesign. Teilweise erleben wir auch schon Ansätze des digitalen Reifegrades „Becoming Digital“, in dem die Digitalisierung bestehende Arbeit von Menschen ersetzt – im betrachteten Arztbrief-Prozess z.B. die Schreibkräfte. Das wäre dann eine unmittelbare wirtschaftliche Auswirkung von digitalen Prozessen durch Einsparung von (personellen) Ressourcen.

Aber ist der digitale Prozess der Arztbriefschreibung damit auch besser geworden hinsichtlich seiner Qualitätsanforderungen und insbesondere der Ausrichtung an den Bedürfnissen der Anspruchsteller?

Ich erlaube mir vorab drei persönliche Vorbemerkungen:

  1. Der Begriff „Arztbrief“ ist als Teil der Prozessbezeichnung vollkommen unzureichend. Er sagt aus, dass hier ein „Fachexperte“ (Krankenhausarzt) mit einem anderen Fachexperten (weiterbehandelnder Arzt) kommuniziert. Es geht um die monodirektionale Weitergabe von Fachinformationen und fachlichen Einschätzungen. Die Anforderungen an die Informationen, die der Weiterbehandler benötigt, umfassen aber heute viel mehr, als „nur“ die medizinischen Details. Auch andere Fachexperten im Krankenhaus, wie Pflegekräfte oder Therapeuten, haben relevantes Wissen um den Patienten beizutragen – daher ist der Begriff „Entlassbrief“ sicherlich viel passender für den Prozess, den er betrifft. Dabei klingt das Wort „Brief“ in diesem Zusammenhang etwas antiquiert (und das nicht nur, weil es nicht bereits durch den Anglizismus „Mail“ ersetzt wurde…) – steht aber in der analogen Welt tatsächlich für das Papierdokument! Ich würde allerdings lieber neutraler von „Entlass-Information“ sprechen.  
  2. Zentrale Anspruchssteller an die „Entlass-Information“ sind zuvorderst der Patient und seine Angehörigen sowie der Weiterbehandler. Darüber hinaus sind noch forensische Aspekte zu beachten und die Entlass-Informationen sollten einen ausreichenden Beitrag für den Fallabschluss einschließlich Abrechnung leisten und „MDK-fest“ sein. Ich behaupte, dass die Ansprüche in Bezug auf eine „ausreichende Information“ bereits zwischen Patient und Weiterbehandler weit auseinanderklaffen. Daher bestreite ich, dass der „Arztbrief“ heutiger Prägung diese Anforderungen erfüllt. Bevor man also auf die Idee kommt, den Prozess „Arztbriefschreibung“ zu digitalisieren – selbst wenn man ihn standardisiert oder in einer Fachabteilung ein Best-Practice-Beispiel gefunden hat – sollte man über seine Ausrichtung grundsätzlich neu nachdenken!
  3. Der typische Arztbrief heutiger Prägung ist nahezu in allen Fällen „vorläufig“. Das macht aus Sicht des Senders Sinn, da oft einzelne Befunde, wie derjenige der Histologie, bei Entlassung des Patienten noch nicht vorliegen. Den Begriff „vorläufig“ kennen wir alle im Zusammenhang mit ersten Hochrechnungen bei politischen Wahlen oder bei behördlichen Bescheiden – in der Regel vermuten wir: Da kann sich noch einiges tun! Für den weiterbehandelnden Arzt in seiner niedergelassenen Praxis als Empfänger ist das aber relativ problematisch, da er seinem Patienten nichts wirklich Endgültiges mitteilen kann. Und da nützt es mir auch wenig, wenn der endgültige Arztbrief dann einige Wochen später in meiner Praxis eintrudelt. Ob sich das vertrauensfördernd auf die Arzt-Patienten-Beziehung auswirkt, möchte ich doch bezweifeln. Untersucht man einmal für eine größere Anzahl die Übereinstimmung zwischen vorläufigem und endgültigem Arztbrief, dann ist diese sicher höher als 80%. Da die Änderungen in der Regel im endgültigen Arztbrief nicht kenntlich gemacht sind, obliegt es dem niedergelassenen Arzt, Wochen nachdem der Patient bei ihm war, die Unterschiede durch direkten Vergleich der beiden Arztbrief-Fassungen herauszufinden. Glauben Sie, dass auf diesem Wege den niedergelassenen Arzt relevante nachkommende Informationen, die ggf. therapierelevant sein könnten, wirklich sicher erreichen? Ich nicht…

Wie sieht es denn in Ihrer Klinik aus? Wer entscheidet über Inhalt und Form des Arztbriefes? Ich schätze mal, der Chefarzt der jeweiligen Fachabteilung (Sender-Orientierung). Es ist aber mit großer Sicherheit nicht der weiterbehandelnde Kollege, der die inhaltlichen und formalen Qualitätsanforderungen an den Arztbrief bestimmt (Empfänger-Orientierung). Was wären denn Anliegen z.B. des niedergelassenen Facharztes – haben Sie diesen mal diesbezüglich befragt? Eines ist gewiss: er hätte die Informationen sicher gerne, bevor der Patient in seiner Praxis erscheint und möchte den Brief nicht erst im Beisein des Patienten – als letztes Glied in der Prozesskette! – öffnen müssen. Er hätte die Informationen gerne in Form eines „Cockpits“ so aufbereitet, dass er „auf einen Blick“ alles Relevante erfasst und will sich sicher nicht erst durch viele Seiten Epikrise quälen. Er hätte gerne die für ihn wichtigen Befunde beigefügt, nicht aber einen unselektierten Stapel der kompletten Befundsammlung.

Und der Patient? In Workshops, in denen ich mit Krankenhausmitarbeitern über die Optimierung des Arztbrief-Prozesses diskutiere, kommt oft der Einwand: „Aber der Patient will einen Arztbrief! Und es ist doch effizient, dass der Brief für Weiterbehandler und Patienten nur einmal erstellt wird!“.

Falsch! Man sollte nicht den Wunsch des Patienten nach einem Arztbrief mit dem Wunsch des Patienten nach relevanten Entlass-Informationen verwechseln – bloß, weil der Patient heute keine Alternative hat!

Der Patient versteht vermutlich den größten Teil des Arztbriefes gar nicht oder schlimmstenfalls sogar falsch – ich kenne keinen Arztbrief, der mit der Anrede „Lieber Patient, schön, dass Sie den Krankenhausaufenthalt nun hinter sich haben…“ beginnt, sondern die Standard-Einleitung lautet in etwa „Verehrter Kollege, wir berichten über Ihren Patienten…“ – der Brief spricht über mich, nicht zu mir. Und dann kommt dem Patienten im Prozess noch die Rolle des „Postboten“ zu – fraglich, ob der Brief auf diesem Wege den Empfänger immer zuverlässig erreicht… und dann finde ich als Patient wirklich brauchbare und für mich verständlich aufbereitete Informationen zum poststationären Verlauf gar nicht oder unzureichend, z.B. zu Mobilisierung oder Belastung nach Operationen, zu Kostaufbau, zur Wundversorgung oder zur Hygiene. Umso schlimmer, wenn ich nicht direkt in eine Anschluss-Behandlung komme, sondern erst einmal zuhause auf mich allein gestellt bin!

Hand aufs Herz: Ist für Sie nach den bis hierhin angestellten Betrachtungen der typische „Arztbrief-Prozess“, wie er sich heute in nahezu allen Kliniken als Standard darstellt, immer noch wert, digitalisiert zu werden? Ich möchte fast herausschreien: „NEIN – bloß nicht!“

Meine Vision des digitalen Prozesses zur Erstellung der Entlass-Informationen stelle ich Ihnen nächste Woche im dritten und letzten Teil dieser Blogreihe vor.

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